Unter Pseudogemeinschaft versteht die Literatur solche Gemeinschaften, die die individuelle Entwicklung ihrer Mitglieder behindern.
Während in authentischer Gemeinschaft Abweichung, resultierend aus den individuellen Erfahrungen und Bedürfnissen, als Bereicherung empfunden wird, droht die persönliche Entwicklung ihrer Mitglieder in der Pseudogemeinschaft das Gefühl von Zusammengehörigkeit infrage zu stellen – und bedroht so die gesamte Gruppe in ihrer Existenz.
Es entsteht ein starres Korsett an sozialen Rollen, deren strikte Einhaltung in- und außerhalb der Gemeinschaft von jedem einzelnen erwartet wird. Dieses von allen geteilte System an strikten Rollen, die Mitglieder zu erfüllen haben, be- und verhindern die Entwicklung einer individuellen Persönlichkeit. Wahrnehmungen und Artikulationen, die abweichende Erwartungen, Interessen oder die Entwicklung von Individualität zum Ausdruck zu bringen drohen, äußern sich nur noch diffus, angedeutet, unscharf oder verzerrt. Das einzelne Mitglied verlernt die Fähigkeit, sich und seine Interessen zu formulieren. Anstatt also „ich will“ zu sagen, versteckt, wer so groß wird oder in eine solche Gruppe hineinwächst, seine Botschaft in weitschweifigen oder blumigen Erklärungen, die beispielweise auf das Gruppeninteresse verweisen. So wird „ich will“ zu „es ist gut für uns alle“. Das Ich geht in der Gruppe auf, bringt sich gewissermaßen selbst zum Verschwinden, und damit gleichermaßen alle Bedeutungsgehalte, die über die Gruppe hinausreichen.
Die strikte Rollenstruktur innerhalb der Pseudogemeinschaft wird mit einem Set an Legenden und Mythen aufrechterhalten. Exklusivitätserzählungen, die stets auf die Alternativlosigkeit der Pseudogemeinschaft zielen, treffen immer auf Feindbildnarrative.
Wir sind die Wissenden versus die anderen sind die Unwissenden.
Wir sind die Gläubigen versus die anderen sind die Ungläubigen.
Wir sind die Auserwählten versus die anderen sind verdammt.
Wir sind die Lösung versus die anderen sind das Problem.
usw.
Da die Exklusivität innerhalb der Gruppe feststeht, sieht sie sich von ihrer Umgebung permanent bedroht. Die Exklusivitäterzählungen münden also stets in kollektivierende Viktimisierungsnarrative: „Die anderen bekämpfen uns, weil wir die Auserwählten sind.“ Das eigene Unvermögen, sich in ihr zu bewegen, wird als bleibende Bösartigkeit auf die Umgebungsgesellschaft projiziert: alles außerhalb der Gemeinschaft sei von Grund auf verkommen, bösartig, feindlich. Manche Gruppierungen haben einen ausgesprochen missionarischen, andere einen kämpferischen Impetus. Das eigene Heil wird dann daran gebunden, die Umgebung von den eigenen Wahrheiten zu überzeugen. Das kann bis hin zu Militanz gehen. Wieder andere destruktive Gemeinschaften kapseln sich hingegen weitgehend ab.
Das Individuum verlernt die Fähigkeit, sich außerhalb der Pseudogemeinschaft zu bewegen. Kinder, die in eine solche Gemeinschaft hineingeboren werden, trifft das besonders schwer, denn wo Erwachsene, die sich ihr zu einem späteren Zeitpunkt anschließen, in ihrer Biographie Erfahrungen außerhalb der Gruppe gemacht haben (seien sie noch so defizitär), hat das Kind nur ganz wenige soziale Orte für Erfahrungen in der Umgebungsgesellschaft. Der Kontakt zu Gleichaltrigen wird oft auf das absolut notwendige Minimum beschränkt. Wo der Schulbesuch unvermeidlich ist, werden sportliche Aktivitäten, Besuche bei Klassenkamerad*innen nach der Schule oder Kindergeburtstage unterbunden.
In die Pseudogemeinschaft kann jeder geraten, unabhängig von Lebensalter oder Herkunft, manchmal sind es persönlichen Krisen, das Gefühl, unverstanden zu sein, oder eben schlicht Sinnfragen, die die Zugänge zu destruktiven Gruppen öffnen. Die Literatur spricht oft von biographischen Zufällen, und meint damit, dass es nicht vorhersagbar ist, wer zu welchem Zeitpunkt auf welche Menschen trifft und unter welchen Lebensbedingungen für welche Botschaften ansprechbar ist.
Der Alltag außerhalb der Gruppe wird als chaotisch, verstörend und bedrohlich empfunden. Aussteiger*innen aus Pseudogemeinschaften leiden manchmal noch jahrelang daran, keinen Zugang zur Umgebungsgesellschaft zu finden und sich keinen Alltag aufbauen zu können, der für sie befriedigend und sinnstiftend ist. Damit verbunden sind ganz intime Problemlagen, etwa das Gefühl, zu Gesprächen (Small Talk) nichts beitragen zu können, das Verhalten anderer Menschen nicht zu verstehen, Beziehungsunfähigkeit, Einsamkeit, tief sitzende Ängste, aber auch weiterreichende Probleme, beispielsweise private Verschuldung, Arbeitslosigkeit usw.
Trotz aller Bemühungen der Pseudogemeinschaft, sich von der Außenwelt nach Möglichkeit zu isolieren, können Kontakte nicht ganz verhindert werden. Die daraus innerhalb der Gruppe entstehenden Irritationen und Dissonanzen werden oft durch Sündenbockerzählungen abgemildert: „Du bist schuld, wenn wir nicht in Ruhe und Frieden leben können“, „Wenn wir damit scheitern, unseren (heiligen) Auftrag zu erfüllen, ist das deine Verantwortung“, „Du bist schuld, dass deine Mutter unglücklich ist.“ Auch diese tief sitzenden Schuldgefühle tragen Betroffene oft jahrelang mit sich. Häufig ist der Alltag in solchen Gruppen von einem hohen Maß an Misstrauen gegen das einzelne Gruppenmitglied geprägt. So können beispielsweise Erkrankungen, die den Erkrankten wie kaum ein anderes Geschehen auf sich selbst zurückwerfen und die Gruppe schlaglichtartig an die Individualität ihrer Mitglieder gemahnen, vor solchen Folien gedeutet werden. Der Erkrankte sei selbst schuld, heißt es dann, weil seine Beziehung zu Gott gestört sein müsse.
Die zugrundeliegenden Gruppendynamiken wurden mit dem Begriff von der Pseudogemeinschaft zuerst von der klinischen Forschung beschrieben. Wir bevorzugen den Begriff von der destruktiven Gruppe, um anzuzeigen, dass es sich im Kern nicht um ein pathologisches (ein krankhaftes) oder ein pathogenes (ein notwendig in Erkrankungen mündendes) Geschehen handelt. Zugleich zeigt der Begriff destruktive Gruppe an, wie schwerwiegend die psychosozialen Dynamiken und Mechanismen der Pseudogemeinschaft in das Leben des Individuums eingreifen.