Ich bin in eine Gemeinschaft hineingeboren, die alle Antworten für diese Welt kannte. Bereits als Kind durfte ich den Weltretter, den Nachfolger von Jesus Christus persönlich kennenlernen und Teil seiner göttlichen Gemeinschaft sein. Ich fühlte mich als etwas ganz Besonderes, Teil einer auserwählten Elite und verantwortlich für die Rettung der Welt.
Mein Leben in dieser Gemeinschaft war einfach und der Tagesablauf fest vorgegeben. Es galt viel zu beten und für die Gemeinschaft da zu sein. Die Erwachsenen mussten für die Gemeinschaft Geld verdienen und missionieren. Die Schule war nicht so wichtig und die freien Tage und Ferien verbrachte ich als Kind mit meinen Brüdern und Schwestern abgeschieden auf alten Gutshöfen oder Seminarzentren der Gemeinschaft. Ich war ein glückliches Kind und war überzeugt, dass die Welt „draußen“ böse und satanisch war.
Als ich älter wurde und mich die Gleichaltrigen in der Schule mehr zu interessieren begannen, verspürte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Sehnsucht. Ich wollte zu den anderen, meinen Schulkolleg*innen gehören. Zugleich schämte ich mich für diesen Wunsch. Doch dieser Widerspruch hielt mich nicht davon ab, Kontakt zu den „bösen“ 14-Jährigen aufzunehmen und mit ihnen um die Häuser zu ziehen. Ich wurde von einer Außenseiterin zu einem Teil der Jugendlichen-Clique und ich spürte die Kraft, die Freundschaft haben kann: füreinander da sein, gemeinsam durch dick und dünn gehen und gegenseitiges Vertrauen. Ich verliebte mich in einen Jungen aus der Clique und wusste zugleich, dass diese Schmetterlinge im Bauch ein Werkzeug des Teufels waren, um mich vom richtigen Weg abzubringen. Das haben mir meine Brüder und Schwestern von Kind an eingeimpft.
Natürlich hielt ich meine Gefühle und meine weltlichen Freundschaften vor meiner Gemeinschaft geheim. Ich lebte in zwei Welten, während der Schulzeit tat ich alles dafür, ein „normales“ jugendliches Mädchen zu sein, doch sobald ich mein Zuhause betrat, verwandelte ich mich in ein braves gläubiges Mädchen der Gemeinschaft. Ich wusste, dass ich etwas Schlechtes tat und dieser Konflikt drängte mich immer weiter in eine Aufspaltung meiner Welt in zwei Teile.
Die Wochenenden und Ferien verbrachte ich weiterhin bei Gottesdiensten und Camps meiner Gemeinschaft. Auch andere Brüder und Schwestern meines Alters berichteten mit heimlich von ähnlichen Konflikten und Spaltungen. Wir wussten, dass wir Böses taten und uns große Strafen drohten, sollten unsere Doppelleben und unser Wunsch nach Satans Verlockungen ans Tageslicht kommen. Wir hatten Angst davor und wussten zugleich, dass wir uns unseren Eltern und der Gemeinschaft nicht anvertrauen konnten, unsere Schuld war zu groß.
Als Jugendliche der Gemeinschaft erhielten wir bei jedem unserer Zusammenkünfte stundenlange Vorträge zu unseren göttlichen Aufgaben und Verpflichtungen, aber wir wurden auch eindringlich vor den Verführungen Satans gewarnt, die vor allem Mädchen und Jungs in unserem Alter erwarten würden. Es schien, als würden unsere erwachsenen Brüder und Schwestern genau zu wissen, mit welchen Gefühlen und Geheimnissen wir uns auseinandersetzten.
Nach jedem dieser Treffen fühlte ich mich wie umgedreht, wie ausgewechselt. Innerlich schwor ich Gott meine 100%-ige Treue und ich wollte voll und ganz zu meiner Gemeinschaft zurückkehren. Ich betete jeden Tag stundenlang und weinte vor Reue und Schuldgefühlen. Ich betete zu Gott und bat ihn um Verzeihung und schwor ihm, mich niemals wieder so weit von ihm zu entfernen. Ich brach den Kontakt zu meiner Clique nach jedem Treffen meiner Gemeinschaft ab. Ich ignorierte sie in der Schule und auch sonst versuchte ich, mich von ihnen fern zu halten. Doch nach einer gewissen Zeit wurde ich rückfällig und traf mich wieder mit meinen Freunden. Es war ein ständiges Hin und Her, bis ich irgendwann zusammenbrach und mich völlig verloren fühlte. Aus purer Verzweiflung öffnete ich mich meiner Clique und erzählte ihnen von meiner Welt und meinem Konflikt. Sie waren entsetzt und zugleich überfordert über meine Situation. Sie trösteten mich und ich fühlte mich angenommen. Ich spürte diese Wärme, die ich unendlich vermisst hatte.
Jahre später musste ich die Gemeinschaft verlassen, da ich als Schwester der Gemeinschaft zu schwach war und zu viele weltliche Kontakte pflegte. Meine Brüder und Schwestern missbilligten meine Lebensweise. Ich durfte nur bleiben, wenn ich meine Freunde in der Außenwelt aufgab und Reue zeigte. Das schaffte ich nicht. Als Bestrafung dafür, wurde ich ausgestoßen.
Ein Teil von mir war glücklich über diese Entscheidung, die mir von der Gemeinschaft abgenommen wurde, endlich Freiheit! Der andere Teil kämpfte und vermisste das Leben in der Gemeinschaft. Aber was genau würde mir die Welt da draußen bringen und wie würde mein Leben in Freiheit funktionieren?
Die ersten Jahre in Freiheit konnte ich abwechselnd bei Freunden wohnen und meine Großmutter, sie war kein Mitglied der Gemeinschaft, unterstützte mich finanziell, damit ich mich für eine Ausbildung und einen Berufsweg entscheiden konnte. Ich war mit der Berufswahl völlig überfordert und zugleich hatte ich das Bedürfnis die Freiheit um mich herum aufsaugen zu müssen. Ich tanzte Nächte durch, probierte Jobs aus, lernte neue Menschen und Hobbys kennen und fuhr zum ersten Mal in meinem Leben auf Urlaub. Bei all diesen Dingen kannte ich kein Maß und lernte in mühsamen Schritten, Verantwortung für mein Leben zu übernehmen.
Meine Vergangenheit holte mich verlässlich und regelmäßig in Flashbacks ein. Diese Zustände kamen plötzlich und unangekündigt. Sie dauerten manchmal Stunden, meist Tage und in seltenen Fällen ein paar Wochen. Schuldgefühle überwältigten mich und zwangen mich, Kontakt zur Gemeinschaft aufzunehmen. Angstzustände und Selbstmordgedanken attackierten mich und ließen mich nicht mehr los.
Meine Freunde rieten mir, Hilfe zu suchen. Die erste Therapeutin verschrieb mit Antidepressiva. Nach weiteren Therapien und Beratungsversuchen, gab ich auf. Meine Situation verbesserte sich nicht und in den Sitzungen unterschiedlicher Therapeut*innen und Berater*innen wurde ich in der Regel mit Fassungslosigkeit und Unverständnis konfrontiert. Sie verstanden mein Problem nicht. In meiner Not begann ich selbst nach Ansätzen und Lösungen für meine „Situation“ zu suchen. Ich stieß auch Sektenliteratur. Ich verschlang Artikel und Bücher zu Sektenberichten und psychischen Manipulationstechniken. Zum ersten Mal stelle ich meine Gemeinschaft und Gott in Frage. Ich konnte mir nun endlich erklären, woher diese erdrückenden und lebensbedrohlichen Schuldgefühle und Angstzustände kamen. Ich suchte Kontakt zu anderen Sektenaussteiger*innen, denn nun wusste ich, das ich auch eine von ihnen war.
Ich begann zu begreifen, dass die Gemeinschaft in der ich aufgewachsen war, keine Entfaltung meiner Persönlichkeit zugelassen hatte. Schlimmer noch, mir war meine Existenz als Mensch mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen abgesprochen worden. Damit war mir ein Leben als eigenständiger und selbstwirksamer Mensch in der Mehrheitsgesellschaft schwer möglich. Die Idee von Demokratie hatte ich zwar in der Schule kennengelernt, doch tief in mir herrschte noch immer die Überzeugung, dass Gott und meine Gemeinschaft den einzig wahren Anspruch auf Herrschaft innehaben. Meine persönliche ideologische Auseinandersetzung brachte menschenverachtende Denkstrukturen an die Oberfläche, die mich zutiefst erschütterten, da ich bereits als Kind davon überzeugt gewesen war, für das Gute in der Welt zu kämpfen und den Frieden zu bringen.
Mein Ausstieg liegt nun mehr als 20 Jahre zurück und ich habe viele Menschen mit ähnlichen Biografien getroffen. Ich habe gelernt, dass es keinen Unterschied macht, aus welcher dieser Gemeinschaften man ausgestiegen ist. Es sind die Mechanismen psychischer Manipulation, die Menschen in destruktive Strukturen bringen und dort halten, auch mit ihren Kindern.
Unabhängig von dem Bild, das destruktive Gruppen gerne nach außen präsentieren, geht es bei den Aussteiger*innen um die subjektiv erlebten Ein- und Beschränkungen, Beschämung und Erniedrigungen, die ihnen in diesen Gruppen mit Vorsatz und systematisch angetan wurden. Mit den Folgen müssen wir Betroffene ein Leben lang kämpfen.