Olivers Geschichte

Olivers Geschichte

Ich bin in der DDR groß geworden, meine Eltern waren zunächst dem System neutral gegenüber, haben dann später verborgen mit den Bürgerrechtlern sympathisiert, waren dort schließlich auch aktiv tätig, aber alles im Verborgenen, im Geheimen. Später sind meine Eltern durch einen unglücklichen Umstand ins Visier der Stasi geraten und dann auch ins Gefängnis gekommen. Das Besondere war, dass ich damit groß geworden bin, dass „wir etwas tun, damit das DDR-Unrechtssystem verschwindet“, und sich meine Eltern in einem Umfeld bewegt haben, in dem man sich gegenseitig unterstützt und geholfen hat. Mir war das als Kind nicht bewusst, ich war ja klein. Ich wusste nur, dass etwas komisch ist, manchmal stand die Stasi vor der Tür, die Stasi verfolgt Leute – das habe ich als Kind erlebt. Ich bin damit groß geworden, dass der Feind die Menschen um einen herum sind, mir war das so aber gar nicht bewusst. Es hieß, „wir sind die Guten, die anderen sind die Feinde und die Bösen, weil sie den Menschen schaden.“ Ich wusste das nicht so genau, nur so ungefähr, denn meine Eltern haben mir beigebracht, still zu sein. Darum hat sich alles gedreht: Immer zu schweigen. In der DDR wurden beispielsweise den Kindern an den Schulen so Fragen gestellt, wie das Sandmännchen aussieht oder der Zeiger von den Nachrichten. So konnte man herausfinden, ob die Leute Westfernsehen sehen oder nicht. Es wurde genau registriert, wie aktiv die Kinder sind. Ich war die ganze Zeit in einer Habachtstellung zu vermeiden, dass die Haltung, „wir sind die Guten, die anderen sind die Feinde“, durchsickerte.

Ich gehörte als Kind nirgends dazu, habe es aber nicht wahrnehmen können. Ich wusste nur, okay, wir sind was Besonderes, aber es wurde nie explizit ausgesprochen. Wir gehörten zu den Guten, d. h. meine Eltern und mit ihnen auch ich, und alle anderen sind immer eine potentielle Gefahr für uns. Ich habe immer mit der Perspektive gelebt, dass, wenn etwas schiefläuft oder ich etwas falsch mache, ins Heim komme. Das stellte ich es mir als den Gulag der DDR vor. Das stand als Drohung immer im Raum. Es wurde nie viel darüber geredet, aber es war mir bewusst, wenn ich was falsch mache, kommen meine Eltern ins Gefängnis. Als ich neun Jahre alt war habe ich einmal aus kindlicher Neugier den Telefonhörer unseres Telefons aufgeschraubt. Es war eine Wanze drinnen. Ich wusste auch, dass hinter den Tapeten Wanzen versteckt waren. Schon als kleines Kind habe ich das Gefühl gehabt, permanent überwacht zu werden.

Es war eher ein diffuses Gefühl. Ich habe nie jemanden nach Hause bringen können. Ich glaube, das habe ich nie gemacht. Ich hatte als kleines Kind keine Freunde. Das war nicht möglich, und es war auch gar kein Thema. Es wurde von mir auch nie hinterfragt. Ich war immer allein mit meinen Eltern und dem Rest der Familie. Ich habe es erst sehr viel später begriffen, und das ist erst wenige Jahre her, dass ich auch dadurch, dass meine Eltern im Gefängnis waren, ausgeschlossen war. Es wusste ja jeder, und dann hieß es, „spiel nicht mit dem!“

Meine Eltern haben nicht mit mir darüber geredet, weil sie dachten, es ist besser, wenn ich so wenig weiß wie möglich. Wenn sie untereinander über heikle Sachen gesprochen haben, wurde mit Alupapier oder Folie geknistert, damit es beim Abhören nicht verstanden wurde. Oder sie haben in der Räubersprache gesprochen, dass ich es nicht verstehe.

Ich hatte einmal etwas mit anderen Kindern organisiert, das war sogar etwas Sinnvolles, Subotnik [(„Freiwilligenarbeit“ des gemeinsamen Aufräumens] oder so. Von den anderen Erwachsenen wurde ich dafür gelobt, aber meine Eltern haben mich dafür ausgeschimpft, dass es nicht geht. Sie haben damit gedroht, dass ich, wenn ich so etwas weitermache, ihnen, den Eltern, weggenommen werde. Und dann kam wieder die ominöse Drohung mit dem Heim, der Vorhölle.

Mir war völlig klar, dass wir so sein sollten, wie das System es verlangte, und dass man eben etwas Eigenes denkt. Es ist dieses Schizophrene paranoider Diktaturen, als dessen Mitbürger in völlig verschiedenen Richtungen denken zu müssen.

Irgendwann wurde mir von meinen Eltern gesagt, dass wir in den Westen dürften, aber es wurde mir nur sehr kurz vorher mitgeteilt. Am Anfang waren wir in der DDR Feinde, jetzt waren wir privilegiert, die Elite, weil wir weg durften. Vorher musste es nicht explizit ausgesprochen werden, Elite zu sein, es reichte der Gedanke, dass man etwas Besonderes war. Da gab es keine Geschichte außenrum, es war eher ein Gefühl. Ich habe mir alles zusammenreimen müssen. Besonders zu sein, kann etwas Positives bedeuten, aber es kann auch heißen, anders zu sein, und anders zu sein heißt, nicht dazu zu gehören. Damit ist Scham verbunden und damit war ich immer eher ausgeschlossen. Nachdem wir in den Westen gezogen waren, war es das Gleiche. Es hieß, wir sind etwas Besonderes, und damit war ich im Westen wieder der Außenseiter. Ich war 13 Jahre alt. Alles änderte sich, das System, die Menschen und wie sie miteinander umgehen. Im Westen haben die Schüler immer gemacht, was sie wollten, im Osten sagten sie, „ihr lernt das!“, also lernten wir es.

Es war ein Kulturschock für mich. Ich war der Abschaum aus dem Osten. Ich war wieder ausgeschlossen. Aber meine Eltern haben jetzt etwas klarer geredet, sie sagten, „wir sind etwas Besonderes, wir haben uns gekümmert, dass die DDR destabilisiert wurde“.

Besonders beschädigt hat mich, dass meine Eltern nicht mit mir geredet haben; dass ich nur so nebenher gelaufen bin. Ich glaube, dass Kinder grundsätzlich sensibel sind. Mir hat die Weiterentwicklung gefehlt, ich hätte mich für Naturwissenschaften interessiert. Ich musste alles alleine machen. Es hieß immer, dass ich alle Freiheiten habe, lern das, mach das, aber es war nicht klar, wofür. Mir fehlten die Ziele und ich hatte keine Vorbilder außer die des Fernsehens. Ich bin in einem Elternhaus groß geworden, wo für das Essen gesorgt war, es einen Schlafplatz gab, wir haben wohl auch mal gesprochen und sie waren nett zu mir, aber es fehlten die elementaren Sachen. Meine Eltern haben nie mit mir gespielt. Ich war einfach nur da.

Ich lebte in einem Film, aber es gab in Wirklichkeit noch einen anderen Film. Und dieser andere Film existiert(e) für mich als Bedrohung. Es gab so paradoxe Anweisungen wie: „Lern fürs Leben, sei fleißig!“ Aber auch: „Schuster bleib bei deinen Leisten!“ und ganz schlimm für mich: „Von einem schönen Teller kann man nicht essen.“ Ich habe wie in einem falschen Film gelebt. Es war einfach unklar, was passiert. Deswegen kann ich mich mit dem Film Matrix identifizieren: alle sind in Trance und ich auch, bis ich irgendwann erwache. Und irgendwann bin ich erwacht.

Ich hatte immer das Gefühl, ich werde nicht geliebt, war aber auch nicht in der Lage, mir eine Freundin zu suchen, weil ich überhaupt nicht wusste, was ich mit der anfangen soll. Ich war nicht in der Lage, Beziehungen zu gestalten, weil mir das alles sehr suspekt war. Für meine Eltern stand im Fokus, die DDR zu destabilisieren. Das war ihre Aufgabe. Ich gehörte nicht dazu.

Für andere Menschen, die ein bisschen normaler waren, existierte ich überhaupt nicht. So war das bei Jungs. Mädchen – ich habe es nicht gelernt, irgendeine Beziehung zu Mädchen aufzubauen. Es war grausam, ich war alleine.

Als ich erwachsen wurde, habe ich mir sinnlose Jobs gesucht, die langweilig sind, in einem feindlichen Umfeld. Irgendwas, das diesen Strukturen ähnelt. Wir tendieren dazu, dort mitzuschwingen, was uns vertraut ist. Anstatt also in einer Abteilung zu arbeiten, wo man etwas aufbaut und entwickelt, habe ich in einer Abteilung gearbeitet, wo man Menschen quält, wo man sie ausquetschen kann. Mich haben nur Aktivitäten angezogen, die dem, was ich kannte, irgendwie strukturell ähneln. Nicht, was mir guttut oder was ich liebe. Bekannt hat sich die feindselige Umgebung angefühlt und zu einer Gruppe zu gehören, die das Gute macht und erfolgreich ist. Wir gehörten zu denen, die Millionen eingespart haben, aber eigentlich gehörte ich gar nicht dazu, sondern war wieder nur dabei. Es war ein Umfeld, auf das alle anderen feindlich reagiert haben. Das hat das Wir-Gefühl gestärkt.

Für die Stasi war ich als Kind unsichtbar. Ich habe später nach meinen Akten gesucht, aber nichts gefunden. Das heißt, ich war nur dabei. Einer der Aspekte, in einer (gefühlt) feindlichen Umgebung groß zu werden, ist, dass du eine Sensibilität entwickelst dafür, wenn etwas nicht stimmt. Ich komme auch als Erwachsener aus der Nummer nicht raus. Mir geht es gut, wenn alles friedlich ist. Wenn aber Menschen oder Gruppen Dinge machen, die inkongruent sind, merke ich es sofort. Ich habe in einem Umfeld gewohnt, das feindlich war, und später dummerweise in Westberlin, das von einer Mauer umgeben war. Allen in Westberlin war klar, wir sind umgeben vom Feind. Manche konnten das ignorieren, ich nicht. Mit dieser Erfahrung kann ich sofort sagen, wer nicht im Interesse der Gesellschaft arbeitet – wo die Dinge hinten und vorne nicht stimmen. Wie manche sagen, „Alle in einen Sack, zuschnüren, mit einem Knüppel draufschlagen, egal, wen man trifft, man trifft den richtigen.“ Das ist eine Meinung, die man nicht teilen muss, aber, wenn man wütend ist, hilft sie zu entspannen. Dieses Gefühl hat sich sehr stark ausgewirkt. Es ist sehr schwer loszuwerden.

Ich vermute, es ist wichtig, einen anderen Kontext zu bekommen, der grundsätzlich friedlicher ist. Das habe ich mir in einem späteren Job gesucht, aber auch dort lief es im Laufe der Jahre aus dem Ruder. Es war am Anfang sehr friedlich, wurde aber immer feindseliger. Jeder gegen jeden. Ich bin dortgeblieben, weil ich dachte, ich gehöre zu den Guten. Anstatt zu gehen, habe ich den Kontakt zu den Kollegen gesucht, von denen ich dachte, es funktioniert. Oder ich habe mich weggeduckt, es ignoriert. Konstruktives Verhalten war mir nicht möglich. Ich hatte keine Angst vor dem Management, keinen Moment. Die hatten Angst vor mir komischerweise. Weil ich aggressiv aufgetreten bin. Ich war ähnlich intelligent wie die, aber nur ein kleiner Pisser. Ich hatte keine Angst. Komischerweise hatte ich Angst vor anderen Sachen, ich hatte Angst davor, eine fremde Klingel zu drücken. Keine Ahnung, warum. Die Angst war verschoben, durcheinander. Man muss vor den richtigen Sachen Angst haben. Dass man krank wird. Ich habe Segelfliegen gemacht, aber ich hatte keine Angst. Das war sehr schlecht. Segelfliegen ist gefährlich, insbesondere Start und Landung. Oben fliegen kann jeder. Ich hatte keine Angst vor der Landung, aber ich hatte Angst vor der Höhe. Völlig irrational. Das Segelfliegen ist ein Beispiel, wo die Angst völlig durcheinander ist. Ein anderes Beispiel: ich habe Angst vor dem Meer, etwa auf einem Schiff. Aber mit einem Taucheranzug springe ich ins komplett Schwarze, egal, was dort unten ist.

Im Alltag habe ich mir zum Beispiel keine Freundin gesucht, weil ich Angst vor Frauen hatte. Angst vor Frauen oder Mädchen, Angst davor, Erfolg zu haben, wenn die sich für mich interessiert haben. Angst davor, sie zu verlieren. Das war alles völlig durcheinander. Ich hatte Angst vor freundlichen Beziehungen, nicht vor feindseligen. Es war mir nicht vergönnt, ich habe immer extrem irritiert reagiert, wenn sich Mädchen für mich interessiert haben.

Heute bin ich sehr viel weiter in meinem Sozialleben. Es hat damit angefangen, dass ich alle abgesägt habe, die noch irgendeine Verbindung zu meinem alten Leben hatten. Ich meine die Freaks. Leute, die an Echsenmenschen glauben; dass die Welt eine Scheibe ist und so. Das war damals okay. Nicht wie Punks. Das sind keine Freaks in meinen Augen. Die Leute mussten smart sein, ich habe nie dumme Leute gekannt. Die waren smart, aber vielleicht auch beschädigt, auf ihre Art. Die, die mich angezogen haben, hatten etwas seltsam Komplexes. Komplexität finde ich attraktiv. Die Echsenmenschen – nicht, dass ich so denke, absurd. Das war einfach, um mich zu reiben. Ich fand es attraktiv, eine große Breite zu haben, zu kucken, ob wir zurechtkommen. Es braucht eine Challenge. Heute macht das für mich keinen Sinn mehr, ich denke eher, dass diese Leute so zerschossen sind, dass ich glaube, es wird nichts mehr. Außenseiter haben die einzige Chance, Leute zu finden, die auch versteckte Probleme haben, um überhaupt eine Beziehung führen zu können.

Heute tut es mir gut, ein Umfeld zu haben, wo Leute etwas Ähnliches erlebt haben wie ich. Aber es ist wichtig, dass sie nicht das Gleiche erlebt haben. Mein Tipp wäre, sich nicht Leute zu suchen, die das gleiche erlebt haben. Also: „Ich bin ein Aussteiger aus der Mun-Sekte, daher suche ich mir andere Aussteiger aus der Mun-Sekte.“

Der Anlass, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen, war, dass sich meine Freundin von mir getrennt hat. Es lief im Job nicht, es lief an mehreren Stellen nicht, und ich hatte nicht mehr die Kraft, dagegen anzukämpfen. Mir ging es immer schlechter, bis ich an einen Punkt kam, wo mir alles egal war. Jeder Tag war ein Kampf. Ich wusste, ich muss etwas machen, aber ich wusste nicht, was. Also mir wurde mir klar, ich brauche Hilfe. Job. Freundin. Wohnung.

Woraus bin ich ausgestiegen? Ich bin ausgestiegen aus der mir früher nicht bewussten Vorstellung, gegen virtuelle Feinde, die nicht existieren, kämpfen zu müssen. Was ich als Kind gelernt habe, war, dass wir, meine Eltern und ich, gegen das Böse kämpfen müssen, und dieses Böse war der Demokratieschaden für Deutschland. Ich bin dafür ausgestiegen, dass ich „ich“ sein darf.

Bei mir war es kein Ausstieg aus einer Gruppe. Aber es war ein Ausstieg aus Gedankenkonstruktionen und Gefühlen. Ein Ausstieg ist dann gelungen, wenn ich sagen kann, ich entscheide allein über mein Leben. Wenn ich also selber frei nach meinen Emotionen und meinen kognitiven Fähigkeiten einen Weg finde. Ich suche die Beziehungen, die mir guttun, und auch Beziehungen zu Menschen, denen auch ich guttue. Wann weiß ich, dass ich ausgestiegen bin? Das Leben muss sich rund anfühlen. Ich habe gute Beziehungen, habe einen Job, in dem ich mich wohl fühle, bin aktiv, ich habe etwas gelernt und lerne immer noch dazu, und ich habe Bereiche, in denen ich mich freuen kann. Ausgestiegen bin ich, wenn ich mir vertraue, dass ich das auch erreichen kann. Das Vertrauen, den eigenen Weg zu gehen, und nicht den Anti-Weg zu den Eltern oder den anderen oder den Anti-Weg zu der Gruppe. Das ist der Weg zu meinem Glück.

Die Gesprächsgruppe hätte ich früher deutlich unterbewertet, eher hätte ich zu einer Einzelperson gehen können, um mir Hilfe zu holen. In der Gruppe muss ich „ich“ sein und mich offenbaren. Das wäre früher nicht möglich gewesen, weil es zu schmerzhaft gewesen wäre. Heute ist die Gesprächsgruppe für mich persönlich ein wichtiges Instrument, mich mit anderen auszutauschen und meine Gefühle zu reflektieren. Zu sehen, nicht alleine zu sein. Warum ich? Und neue Erfahrungen zu machen und Chancen dabei zu entdecken, was könnte ich besser machen? Ich finde es hilfreich, Personen aus unterschiedlichen Kontexten zu haben, weil es dann notwendig ist, für sich selber, das Muster darin zu erkennen. Es reicht nicht, einfach nur ein Beispiel zu haben, sondern man muss das verborgene Muster, das Modell erkennen. Das ist der Weg der Veränderung. Es reicht nicht, mir meine eigene Geschichte hundertmal zu erzählen, aber sie nicht wirklich zu verstehen. In der Gesprächsgruppe hört man die Geschichten der anderen, die nicht identisch mit der eigenen sind, aber strukturell ähneln sie sich, und ich glaube, das ist das zentrale in der Gesprächsgruppe. Unterschiede erkennen, Gemeinsamkeiten zu verstehen. Ich weiß nicht, ob es anderen hilft, vielleicht ist das mein Weg. Man muss es selber machen, der weiße Prinz kommt nicht. Eher kommt der Schwarze mit der Sichel zum Schluss. Ich weiß nicht, ob man zu ihm Prinz sagen kann, man sieht nie sein Gesicht. Es hilft kein Weihnachtsmann, man muss es selber machen.