Matzes Geschichte

Matzes Geschichte

Matzes Geschichte

Meine Eltern: Mutter, 85, älteste Tochter, durfte nicht studieren, ländliche Hauswirtschaftsmeisterin, später Fortbildung in der „Biblisch therapeutischen Seelsorge“, vermutlich in der dritten Generation aus pietistischer Bauernfamilie, mit ausgeprägter Angststruktur. Sie fuhr z. B. extra ans Sterbebett einer ihrer Schwestern, die nicht so christlich war, um sie zu bekneten, damit sie nicht in die Hölle kommt. Drohte mir schon vor Jahren: DU musst Dich nach dem Tod vor Gott verantworten. Die Angststruktur hab ich wohl von ihr „geerbt und erlernt“. Meine Mutter kann nicht mit Kindern umgehen und hat vier in die Welt gesetzt. Dem dritten Kind hat sie wohl, als der schon erwachsen war, erzählt, dass sie in ihrer Verzweiflung tatsächlich den Gedanken mal hatte, ihn abzutreiben (ein absolutes No Go bei uns…) Ich kam also noch „nach der nicht ausgeführten Abtreibung“ zur Welt, als viertes Kind. Laut meiner Mutter war mein Vater ein Kindernarr, und sie saß dann mit vier Kindern in dem dunklen Haus und hat vor Überforderung Gespenster gesehen. Überforderung, mein zweites großes „ererbtes“ Thema, der Spruch meiner Kindheit: „ich kann das nicht…“

Vater, 85, verbeamtet, mein Vater war sechs Jahre im Krieg, SA, Oma mit vier Kids auf der Flucht aus Ostpreußen nach Berlin, später Dresden. Sie erlebten dort Tagesangriffe, er sah Tote in der Elbe schwimmen. Er war evangelischer Kirchenchrist und hatte immer Schuldgefühle, die nach dem „Abendmahl“ wieder da waren. Er lernte meine Mutter kennen, die hatte „Heilsgewissheit“, starker Glaube, keine Zweifel an Sündenvergebung, und hat gesagt: „Solange Du nicht so glaubst, wird aus uns nichts!“ Er hat sich bekehrt, und später haben sie geheiratet.

Ich habe auch immer wieder gezweifelt, ob ich „gerettet“ bin, mich richtig bekehrt habe. Einmal kam ich als Kind/Teenie heim, es war niemand da. Ich habe einen Angstweinanfall bekommen, dass alle entrückt sind, nur ich nicht. Angst und Zweifel (allerdings nur an mir, nicht am System).

In der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde in Österreich, wo die Familie an meinem neunten Geburtstag als Missionare hingezogen ist, gab es kein Kind in meinem Alter. In der Schule wurde ich geschlagen, verhöhnt, gemobbt und war von dem Leistungsniveau völlig überfordert, abgesehen davon, dass viele Lehrer wirklich absolute Arschlöcher und Sadisten waren. Sie brauchten damals im Studium das Fach Pädagogik nicht belegen.

Besonders meine Mutter ist absolut übergriffig. Respektiert keine Grenzen. Sie hat ein starkes Kontroll- und Überwachungsthema und kann gut Verhöre führen. Da ich als gläserner Mensch mit Beichtzwang erzogen wurde, funktionierte das System. Wenn ich es mal gewagt habe, meine Meinung zu sagen, wurde geschlagen, wegen: frech, Widerworte. Mutter hat mich aus dem Affekt heraus mit dem Handfeger auf den Boden geprügelt, Vater aus dem Affekt ins Gesicht, meistens aber gezielt mit dem Rohrstock im Keller, „bück dich, Du bekommst jetzt jedes Mal einen Schlag mehr“. Wenn es in diesen schwierigen Situationen einmal keine Zeit gab, wurde es angekündigt und zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt, kalt und systematisch!

Ich habe ca. 20 Jahre lang versucht, mich mit den Eltern auseinanderzusetzen in Briefen und Gesprächen. Es ist sinnlos. Es ist so sinnvoll wie mit einer Stahlbetonmauer zu kuscheln. Du wirst Dir nur die Seele blutig schinden.

Ich hatte geheiratet. Ich bin geschieden worden. Zeit des Ausstiegs. Ich habe noch vor der gerichtlichen Scheidung eine Freundin gehabt. Auch noch so eine Christin (als sie 16 war und ihre Mutter an Krebs starb, hat die Mutter ihr auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, dass sie kein Sex vor der Ehe hat…)

Alles mit realen Bauchschmerzen, die mich auf jeden Fall seit meinem Weggang aus Österreich begleiten, vorher erinnere ich sie „nur“ in Verbindung mit der Schule, und wenn mein zermatschtes Gewissen angesprungen ist, weil ich als Kind/Teenie eine Scheibe zerschossen habe oder masturbiert. Dafür habe ich mich noch mit 24 als „Schwein“ bezeichnet. Diese Bauchschmerzen sind mit Partnerinnen bis heute mehr oder weniger „mein täglich Brot“. Ich bin seit drei Jahren Single.

Bis 2011 konnte ich mich, obwohl ich auch lange „Liebesbeziehungen“ zu Frauen hatte, nicht richtig einlassen. Ich gerate sehr oft an Frauen, die sexuell missbraucht worden sind. Ich hatte Bauchschmerzen, immer wieder. Gemeinsame Urlaube waren ein einziger Bauchschmerz, war mir alles zu nah, zu viel, aber ich wollte doch, konnte aber nicht. Gerade fange ich an zu weinen. Es waren furchtbare Zeiten, ich hatte keine Antwort, war sehr viel in Therapie. Ich konnte erst 2011 entspannt „ich liebe Dich“ zu einer Frau sagen, in die ich furchtbar verliebt war. DAS war eine große Wende. Bauchschmerzen gibt es trotzdem, teilweise immer noch extrem stark, aber immerhin fühle ich sowas wie Liebe, und dann „muss“ ich die Bauchschmerzen eben zeitenweise „ertragen“.

2011 war ein Wendepunkt, ich hatte seitdem vier Beziehungen. Meine Vermutung ist, dass eigentlich alle vier für mich nicht erreichbar waren. Sie waren selbständig oder in hohen verantwortlichen Positionen oder haben hauptsächlich nachts gearbeitet oder hingen noch am letzten Partner (ich war nur der Übergangsmann). Tja, warum wähle ich mir solche?

Bauchschmerzen gibt es im Beziehungskontext, aber auch wenn ich unter Druck gerate, z. B. bei Konflikten auf der Arbeit oder jetzt in der Ausbildung bei Leistungsdruck. Ich habe viel Angst, es nicht zu schaffen. Angst ist MEIN Thema. Und Überforderung, Druck und natürlich Wut auf meine Vergangenheit. Ich habe noch nie 40 Stunden gearbeitet. Das könnte ich gar nicht, bin zu sensibel, brauche Zeit, um mich zu erholen, um mit meinen Bauchschmerzen zu sein. Ich brauche Puffer, um psychisch und physisch Kraft zu sammeln fürs Leben, zu reflektieren.

Eigentlich bin ich sehr gerne im Kontakt mit Menschen, brauche Freunde, mit denen ich mich austausche über innere Prozesse.

Ich habe ein großes Thema mit Einsamkeit, es ist aber schon besser geworden durch die Achtsamkeitspraxis, aber auch hier neigte ich zum Dogma, von dem ich mich erst wieder lösen musste. Ich meditiere nicht mehr, hab mich selbst damit unter Druck gesetzt. Als Kind war es die „Stille Zeit“ morgens Bibel lesen und beten. Ich neige immer mal wieder zum Dogma. Viele Jahre dachte ich, die Psychotherapie würde mich irgendwann retten.

Dadurch, dass ich mich durch die Selbsthilfegruppe wieder mit den biografischen Themen beschäftige und durch meine Therapeutin, bin ich bewusst zum Atheisten geworden – ist das ein neues Dogma? Erst vor einem Jahr hat meine Therapeutin mir geholfen, meine Angst vor Satan und der Hölle zu überwinden. Die Realität des Teufels in der Familie war so normal wie die von diesem Jesus. Vater hat erzählt, dass unser Haus in Österreich „frei gebetet“ wurde am Anfang, und am nächsten Tag war ein Fenster kaputt, aber die Scherben lagen draußen. Das war der Beweis, dass ein Dämon ausgefahren ist. Später, mit Anfang 20 hab ich sowohl im evangelikalen als auch im gemäßigten charismatischen Bereich Exorzismen erlebt, die mir teilweise große Angst gemacht haben.

Soweit ich zurückdenken kann, war das Leben für mich anstrengend, leidend, schmerzvoll. „Ich kann nicht“, war nicht von ungefähr der Satz meiner Kindheit. Klar gab es im Erwachsenenalter zunehmend auch Besseres, aber der (pessimistische) Grundtenor ist, dass es weh tut zu leben, dass ich kämpfen muss, um es besser zu machen, und dass ich es mir anders wünsche. „Fast alles“, was ich neu angehe, muss mit viel Kraft, Bauchschmerzen, emotionalen Schmerzen und viel Mühe erobert werden. Es ist fast schon absurd, dass gerade ICH es tatsächlich geschafft habe, mich so durchzukämpfen. Was in mir DAS geschafft hat, ist mir ein Rätsel, und jetzt kommen mir die Tränen. Woher kommt dieser Über-Lebenswille?

Ich habe meinen Eltern noch gesagt, dass ich Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung habe, berufsunfähig bin (Erzieher) und vielleicht in Frührente gehe. Das war meine Vorstellung, bevor ich das mit dem Hundetrainer anfing. Sie haben nur gesagt: Du bist doch noch so jung.
Sie sind der Meinung, dass meine Probleme sich lösen würden, wenn ich doch nur zu Jesus zurückkehren würde.

Seitdem ich im Oktober 2019 meine Ausbildung gestartet habe, bin ich emotional extrem gefordert. Um sie zu finanzieren habe ich meine Wohnung vermietet, nutze nur noch Bad & Küche mit, und ich bin in meine 13qm Dachkammer gezogen, weil die Deutsche Rentenversicherung der Meinung ist, ich könnte den neuen Beruf nicht ausüben, und deshalb die Ausbildung nicht zahlen will. Die Folge sind Angst, Unsicherheit, Minderwertigkeit – und viele, viele Bauchschmerzen. Wieder ist es erstaunlich, das ICH bereit bin, DIESEN Preis zu zahlen. Da ist noch jemand in mir, der trotzdem leben will und Verbesserung herbeiführen will. Jetzt weine ich wieder.

Wenn ich heute zurückschaue, habe ich 16 Jahre als Erzieher gearbeitet und dabei viel Schönes mit und durch die Kinder erlebt. Ich habe mich neun Jahre sich als freiberuflicher Schauspieler durchgeschlagen und einige wunderbare Figuren geschaffen. Und: Ich bin ruhiger geworden, es ist friedlicher geworden in mir. Mit über 50 habe ich den ungesunden Kontakt mit der Familie endlich beendet. Habe seit 20 Jahren einen Platz in der Natur, bin immer mal wieder kreativ-künstlerisch tätig, liebe meinen Hund innig und habe Freunde und vieles Schönes mehr, was mich nährt. Es wird immer besser. Heute ist mehr Freud (Dank Sigmund) als Leid!