Alessias Geschichte: Brief an meine Mutter

Alessias Geschichte: Brief an meine Mutter

Hallo Mutter,

sicher wunderst Du Dich, dass ich diese Zeilen an dich schreibe. Und gleich zu Beginn möchte ich klarstellen, dass ich diesen Brief allein für mich schreibe. Damit möchte ich deutlich machen, dass du, die Familie und deine Gemeinschaft mir meine Kindheit, meine Jugend und meine Erwachsenenzeit geraubt habt. Du hast mich nie vor schädlichen Einflüssen beschützt, das werfe ich dir vor! Ja, du liest genau richtig, du und deine Gemeinschaft voller frommer sogenannter Christen, ihr habt mir 50 Jahre meines Lebens kaputt gemacht! Das kann man nicht entschuldigen. Ich könnte verbittert und voller Hass gegen euch sein, aber das bin ich nicht, um meinetwillen, nicht um euretwillen. Aber die berechtigte Wut in meinem Bauch, entstanden durch eure Manipulation und Gewalt, die werfe ich dir und deiner Gemeinschaft vor!

Bereits als kleines Kind lebte ich in ständiger Höllenangst, verursacht durch die andauernde emotionale und körperliche Bedrohung durch dich und Vater. Wir Kinder waren fortdauernd Misshandlungen und Gewalt ausgesetzt, mussten Existenzängste durchleben und ich fühlte mich in dieser Zeit unglaublich alleine gelassen. Die körperliche „Züchtigung“ war damals noch gesetzlich erlaubt, aber bestimmt nicht in diesem Ausmaß, wie ihr sie an uns Kindern ausgelebt habt. Dazu kommen noch die emotionale Verwahrlosung und die religiöse Vergewaltigung, die wir Kinder zusätzlich miterleben mussten. Im Namen Gottes ist selbst Gewalt gegen Kinder in euren Augen gerechtfertigt. Das ist so unglaublich und unfassbar und für mich niemals mit dem Wort Liebe zu vereinbaren, nicht bei euch und schon gar nicht mit eurem Gott!

Wie hat unser Umfeld darauf reagiert? Die Mitmenschen haben nicht genau hingesehen und zum Großteil eigentlich weggesehen, wer etwas wusste war vermutlich zu feige, um etwas gegen die elterliche Brutalität zu unternehmen. Ich werde das nie verstehen, es ist in meinen Augen unverzeihlich, sie waren Erwachsene, sie trugen dafür die Verantwortung! Stattdessen warst du meine einzige emotionale Bezugsperson, denn Vater konnte ich nicht trauen, also klammerte ich mich an dich. Du hast mich nie angenommen und dich gegenüber mir immer verweigert. Erinnerst du dich, wie oft ich dich verzweifelt um etwas Nähe und Zuneigung angebettelt habe, „Mama ich habe dich lieb!“, „Mama, liebst du mich?“ und „Mama, liebe mich, bitte!“ Meine Fragen blieben jedes Mal unbeantwortet und ohne Reaktion deinerseits. „Niemand liebt mich!“ das war die einzige Antwort, die ich mir selbst geben konnte und so fühlte ich mich damals auch.

Dabei habe ich mir nichts lieber gewünscht als Frieden und ein Leben in einer normalen Familie. Dafür unternahm ich bereits als sehr junges Kind den Versuch, einen Friedensvertrag zwischen mir und meinen Schwestern zu vereinbaren, darin hieß es u. a., dass wir dich im Haushalt unterstützen wollen. Leider hielt der Frieden nicht lange an. Wir lebten eng zusammengepfercht auf engstem Raum, ohne Rückzugsmöglichkeiten. Das fand ich unerträglich. Aber ich habe mich weiter um ein friedliches und geordnetes, vielleicht auch kindergerechtes Leben bemüht. Dazu gehörte es, die täglichen Gewaltausbrüche des Vaters zu verhindern. So habe ich oft heimlich geputzt, hätte ich es dir gesagt, wäre dir das Ergebnis nicht gut genug gewesen. Diese Spannung in mir wurde unerträglich. Wiederholte Male bereitete ich das Abendessen zu üblichen Uhrzeiten zu, um den Ärger des Vaters zu besänftigen, aber du hast dich dagegen gestellt und die Situation wie jeden Abend eskalieren lassen, Vater rastete aus und wir Kinder bekamen seine Aggressionen ungeschützt ab. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie oft ich in mein Kissen geweint habe, heimlich, im Stillen. In panischer Angst habe ich euren Gott angefleht, dass das endlich ein Ende nehmen soll.

Aber das Ende kam nicht, irgendwann hörte ich auf, Dinge ändern zu wollen. Ich fühlte mich von Tag zu Tag ohnmächtiger. So ging ich Vater aus dem Weg und hörte auf, deine Nähe zu suchen. Stattdessen verkroch ich mich abends ins Bett ohne Abendessen, es hatte für mich an Bedeutung verloren. Ich stellte mich schlafend, um niemanden zu provozieren, doch die Aggressionen fanden weiterhin statt. Egal ob ich mich bemühte oder nichts tat, es spielte keine Rolle, es war alles umsonst. Ich fühlte mich der Gewalt und den Misshandlungen hilflos ausgeliefert. Irgendwann hörte ich auf zu essen.

Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass ich noch lebe. Meine Magersucht war ein Suizid auf Raten. Es schien mir damals die einzige Lösung zu sein. Später habe ich mir massive Verletzungen zugefügt, um mit meinen innerlichen Schmerzen und meiner Verzweiflung zurecht zu kommen. Es folgten medizinische Behandlungen und unzählige Krankenhausaufenthalte. Die Gefühle von Ablehnung, Wertlosigkeit und des „Nicht-richtig-seins“ hatten sich tief in mir manifestiert. Dein Gott, der Alleinherrscher und Allmächtige verfolgte und überwachte mich, mein Leben, meine Gedanken und Gefühle. Ich bin an diesen religiösen, völlig überhöhten Forderungen zerbrochen. Nichts war gut genug. Ich war nicht gut genug und es war meine Schuld. Wenn ich heute zurückdenke, war ich ein wandelndes Schuldgefühl, ständig habe ich mich, selbst noch als Erwachsene, bei dir entschuldigt. Heute, viele Jahre später, weiß ich, dass ich keine Sünderin bin. Ich bin ein Mensch, und ich habe mich bestimmt das eine oder andere Mal schuldig gemacht, und natürlich will ich dafür die Verantwortung übernehmen. So kann ich mich z. B. bei einem Menschen, den ich verletzt habe entschuldigen. Jeder Mensch trägt diese Form der Verantwortung in sich, da bin ich überzeugt. Aber diese Fähigkeit macht mich nicht automatisch zu einer Sünderin, die nach dem Tod die Hölle verdient hat. Ich bin nicht schuld am Tode Jesu.

Hiermit gebe ich dir den Schuldkomplex zurück, den du mir als Kind aufgeladen hast. Ich bringe die Schuld und die damit verbundene Wut dahin zurück, wo sie hingehört, zu dir und deiner Gemeinschaft. Ich richte diese zerstörerischen Gefühle nicht mehr gegen mich selbst. Ich schäme mich auch nicht mehr, darüber zu nachzudenken und zu sprechen. Das Aufwachsen in einer Welt voller Teufel, Dämonen und Engel, die überall und allgegenwärtig auf mich eingewirkt haben, haben tiefe Spuren hinterlassen. Nicht nur, dass es Jahre gedauert hat, mich rational und emotional von diesen Wahrnehmungen zu lösen, so stellt mein neues Leben mich vor außergewöhnliche Herausforderungen. Denn, dank dir und deinen religiösen Vorstellungen, lernte ich nicht Teil einer freien und demokratischen Gesellschaft zu werden. Stattdessen wurden wir Kindern in einem krankmachenden Parallel-Universum nach den Überzeugungen deiner Gruppe erzogen. Aus der Außenwelt griff niemand ein, auch nicht, um uns zu schützen. Die Fähigkeit Teil eines neuen Lebens, einer offenen, freien Gesellschaft zu sein, fehlte mir und musste ich mir mühsam, mit vielen Rückschlägen aufbauen. Es kostet sehr viel Kraft, den eigenen Weg in einer Welt zu finden, wenn es keinen Zugang, keine Zugehörigkeit und keine Freunde gibt. Nun geht es mir besser, obwohl ich noch weiterhin Medikamente nehmen muss, werde ich meine kommenden Jahre lebenswerter und im Frieden mit mir selbst gestalten können. Denn nun weiß ich, dass deine Religiosität auf Angst, Manipulation und Gewalt beruht. Deswegen musste ich mich damals auch notgedrungen bei Euch taufen lassen, wissend, dass ich das Taufgelübde nie annähernd würde einhalten können. Ich musste aber das seitenlange Taufgelübde entgegen meiner ehrlichen Überzeugung, unterschreiben. Eure Höllendrohungen zwangen mich zu lügen, euren Gott anzulügen. Als junge Erwachsene versuchte ich, die Anforderungen mit größten Anstrengungen zu erfüllen, aber es gelang mir nicht, es konnte mir auch nicht gelingen, davon bin ich heute überzeugt. Stattdessen wurde ich ständig mit meinem persönlichen Versagen konfrontiert.

Mit Ende zwanzig habe ich deinem Gott gesagt, dass ich dieses Versprechen nicht erfüllen kann und es für mich keine Gültigkeit mehr hat. Daraufhin habe ich es zerrissen und weggeschmissen. Ich habe mich von diesem Taufgelübde befreit. Für dich und deine Gemeinschaft ist das natürlich ein Sakrileg, aber für mich war es wichtiger Gott gegenüber ehrlich zu sein. Ich will ihn nicht anlügen. Viele Jahre später habe ich mich in der evangelischen Landeskirche von einer Klinikseelsorgerin und Pfarrerin taufen lassen. Sie konnte mich verstehen und nahm mich ernst. Das war für mich eine wichtige Erfahrung. Jedoch blieben die Ängste, Zwänge und Zweifel tief in mir. Ich konnte sie nur überwinden, indem ich mich von jeglicher Religiosität befreite. Ich glaube nicht mehr und das tut mir gut.

Alessia